Jenseits der Idylle – Jesus und seine Familie

 Andacht zu Markus 3:31-35

            Geht es Ihnen auch so, dass Sie diese Geschichte ein bisschen gruselig finden? Ich bin selbst Mutter, und ich bin Tochter und manches andere. Ich höre diesen Text immer mit zwei Herzen und ich lasse Sie mal hineinschauen.

            Das Mutterherz zuckt zusammen bei diesem „das hier sind meine Mutter…“ Ist nicht eine Mutter, sind nicht Eltern, etwas Einzigartiges, das man nicht einfach austauschen kann gegen Gleichgesinnte? Ist nicht das Blut der Familienbeziehungen dicker als das Wasser von Anhängern, die kommen und gehen? Glaubt Jesus denn, er könne sich auf diese zufällig zusammengelaufene Menschenmenge verlassen, wie auf seine Familie? Hier sind sie, Mutter, Geschwister – extra von Nazareth nach Kapernaum gekommen, um ihn herauszuholen aus dieser peinlichen Lage, in die er sich mit seinem Extremismus manövriert hat. Was es hier braucht, ist die Solidarität und Weitsicht einer zuverlässigen Familie, damit er hier mit heiler Haut und ohne Gesichtsverlust wieder herauskommt. So weit, so plausibel. Aber was sagt das andere Herz?

            Mein anderes Herz ist das Herz eines Menschen, der hier sitzt unter denen, zu denen Jesus sagt: „das hier sind meine Geschwister…“. Warum auch immer sie hier in diesem übervollen Raum hocken: etwas hat sie angezogen, etwas hat sie getrieben. Vielleicht war es einfach Neugier, vielleicht war es die Kraft einer Masse, vielleicht hatten sie gerade nichts Besseres zu tun.

            Bei der einen oder dem anderen war es vielleicht anders – und dieses Herz lasse ich zu Wort kommen. Dieser Jesus strahlte etwas aus, rührte etwas an und ihm zu folgen, fühlte sich an, wie lange gesucht und endlich gefunden. Er redete von Gott und zum ersten Mal war das ein Gott, dem man vertrauen konnte. Er redete vom Reich Gottes in Bildern des Alltags: dieses Reich konnte man verstehen und es lockte. Dieser Jesus hatte vielleicht nicht auf alles eine schriftgelehrte Antwort, aber er hatte für alle ein offenes Ohr und eine liebevolle Hand. Das hier könnte wirklich ein Neuanfang sein. So könnte das Leben auf ganz andere Weise Sinn machen. Zu diesem Jesus zu gehören, könnte wirklich die Kraft geben, altes zurückzulassen.

            Vorsichtige Hoffnung ist das. Und dann kommt der Moment, wo ich die Luft anhalte: da kommt seine Familie, jetzt steht alles auf der Kippe. Was, wenn er jetzt aufsteht und geht? Dann ist auch für mich diese Hoffnung geplatzt, der Ausweg aus dem Alten verloren. Was macht er?

            Er bleibt sitzen, sein Blick schweift über uns alle. Kann er das machen? Einfach nicht aufstehen? Andersherum: kann er das machen: uns von Gottes Reich erzählen, dass uns das Herz aufgeht und sich dann von Mama zum Essen rufen lassen?

            Er redet, vielleicht habe ich nicht alles verstanden, aber dass ich nicht alleine mit meiner Hoffnung zurückbleibe, das habe ich verstanden. „Wer den Willen Gottes tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.“ Das bin ich auch, ich kann bleiben, denn er bleibt auch. Ich atme weiter – und bin glücklich!

            In einem kleinen Buch von Anselm Grün habe ich vor Jahren einen Gedanken gefunden: wir verdanken unseren Eltern unser leibliches Leben. Das ist viel Grund, dankbar zu sein! Aber „unsere Einmaligkeit verdanken wir Gott, nicht unseren Eltern. Darum gehören wir Gott, sollen wir unser Leben ihm geben, uns ihm hingeben. Das führt in die wahre Freiheit.“[1]

Diese Freiheit schützt Jesus, indem er bleibt. Ich genieße diese Freiheit – und will sie auch meinen Kindern zugestehen.

Gebet:

Jesus Christus, du rufst uns in deine Nähe und stellst unsere Füße auf weiten Raum. Danke, dass wir bei dir die Freiheit finden, einen eigenen Weg zu gehen. Hilf uns, dir zu vertrauen und mutig zu folgen. Uns Eltern schenke die Kraft, unsere Kinder an ihren eigenen Weg mit dir freizugeben. Amen.

[1] Anselm Grün, Wege zur Freiheit, Münsterschwarzacher Kleinschriften 102, 1996, S. 19

Veröffentlicht in: Unsere Kirche; 15. 9. 2019