Die Berufung des Levi

So ähnlich könnte es gewesen sein – Die Berufung des Levi

 

Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken.

Lukas 5,31

Eine Art hat der – das ist einfach unglaublich! Aber der Reihe nach.

Mein Name ist Levi, von Beruf war ich Zolleinnehmer in Kapernaum, oben in Galiläa am See Genezareth. Kein besonders schwerer Beruf – aber ein gewisses Know-how sollte man mitbringen. Und – so seltsam es klingt: Geld. Eine Zollstelle muss man nämlich pachten, immer für ein Jahr, und nur gegen Vorkasse. Vergeben wird sie an den Meistbietenden. Man muss also kalkulieren, was diese Stelle im Laufe eines Jahres einbringen wird und dann ein Gebot abgeben. Für die Römer ist das bequem: Sie bekommen damit im Voraus ihr Geld und der Rest geht sie nichts an. Natürlich gibt es Vorgaben, was man in welchem Fall verlangen soll; ob sich jeder genau daran hält, ist wohl eine andere Frage. Immerhin hat man auch das wirtschaftliche Risiko: Wenn die Stelle mehr abwirft als kalkuliert, hat man Gewinn gemacht. Aber auch das Gegenteil kann der Fall sein. Wenn man im nächsten Jahr das Geld nicht hat, die Pacht im Voraus zu bezahlen, ist man weg vom Fenster.

 

Wir bezahlen als Juden Steuern und Zölle an die Römer. Seit Menschengedenken haben wir fremde Herren in unserem Land – nach dem babylonischen Exil sind wir nicht mehr richtig auf die Füße gekommen. Wir sind immer von der Gunst der Großen abhängig geblieben. Als Jesus geboren wurde, waren die Römer seit gut 60 Jahren Herrscher in Palästina.

Das Finanzsystem hatten wir schon vorher, die Römer haben es beibehalten, aber unser Volk hat sich nie daran gewöhnt, in Jahrhunderten nicht. Und deshalb hatte auch ich ein Problem.

Für die religiös tonangebenden Pharisäer sind die Zöllner, zu denen auch ich gehörte, von vornherein unten durch. „Zöllner und Sünder“ – das ist für sie eins. Wir sind unrein, weil wir ja mit den Römern – Heiden also – Umgang haben. Dazu kommt der Generalverdacht, dass wir lügen und betrügen. Wir könnten einen Mord mit eigenen Augen ansehen – und dürften vor Gericht keine Aussage machen. Das tut schon weh – immerhin sind wir auch Juden!

Es lässt sich ganz gut leben als Zöllner – wenn es einem genügt, einigermaßen wohlhabend zu sein und Freunde unter seinesgleichen zu haben. Im Laufe der Zeit sind wir zu einer eigenen Klasse geworden, wir hatten praktisch nur noch Beziehungen untereinander. Nicht weil wir uns für etwas Besseres gehalten hätten: Nein, die anderen wollten mit uns nichts zu tun haben. Für die einen waren wir romfreundliche Kollaborateure, für die anderen geldgierige Blutsauger, für die nächsten gottverlassene Sünder. Keiner wollte etwas mit uns zu tun haben.

Wissen Sie, ich bin kein gottloser Mensch. Ich bin Jude, wie meine ganze Familie – aber natürlich mit großer Distanz. Tempelwallfahrten, Feste, 613 Ge- und Verbote, das ist nichts für unsereins. Von manchem wurden wir sowieso ausgeschlossen, da wurde der Glaube mit der Zeit Privatsache. Das mochten die Pharisäer natürlich gar nicht. Sie hatten den Anspruch, uns arme galiläische Hinterweltler auf den rechten Weg zu führen. Da ging es den ganzen Tag um rein und unrein, um dieses Gebot und jene Verfehlung, um Erfüllung hier und Buße da. Damit konnte ich nichts anfangen. Ich habe versucht, ihnen aus dem Weg zu gehen.

Aber es hat mich der Gedanke nicht losgelassen, dass wir Zöllner auch zu Gottes Volk gehören – selbst ich, Levi. Konnte es denn sein, dass unser Gott uns sang- und klanglos vergaß? Ich hätte gerne mehr von diesem Gott gewusst, aber ich hatte keine Ahnung, wie. Ich hatte immer nur gehört, dass so einer wie ich unmöglich vor Gott stehen kann.

Bewegung kam in die Sache, als der Täufer Johannes bekannt wurde. Ein Priestersohn aus der Nähe von Jerusalem, der sich zum Propheten gemausert hatte. Das sprach sich bis zu uns in Galiläa rum: Johannes steht im Jordan und tauft! Keine Ahnung, wie er auf diese Idee kam – das hatte es bei uns im Judentum überhaupt noch nicht gegeben. Die rituellen Waschungen, die den Pharisäern so wichtig waren, ja, aber das?

Johannes hatte sich diese bekannten Worte von Jesaja zu Eigen gemacht: Den Weg freimachen für Gott. Den Weg freimachen für die Menschen, die zu Gott wollen. Die ganze Menschheit soll Gottes Heil schauen!

Da musste ich hin. Es war mehr als Neugier. Ich hatte einen Traum. Ich wollte einen Weg finden, wie so einer wie ich vor Gott treten kann. Ich habe mich aufgemacht nach Süden, zu Johannes. Ich hatte das Gefühl: Jetzt beginnt etwas Neues, Anderes, er wird mir sagen, dass es auch für mich einen Weg gibt und dass Gott mich nicht abgeschrieben hat. Ich war nicht der einzige, da waren etliche meiner Kollegen, die auch auf der Suche nach etwas Neuem waren.

Es waren Massen von Leuten da und dieser Johannes war wirklich eine beeindruckende Gestalt, wie man sich einen Propheten so vorstellt. Aber auch Furcht einflößend, laut und rau und harsch. „Natternbrut“ hat er uns genannt. Für ihn waren wir wohl alle potenzielle Heuchler, die sich ein bisschen Wasser und ein religiöses Gefühl abholen wollten. Wir sollten uns bloß nicht einbilden, dass wir so einfach davonkämen, wir müssten schon zeigen, dass es uns ernst sei, und nicht einfach damit kommen, dass wir Juden seien. Klang nicht sehr einladend. Ein paar ganz Mutige haben nachgefragt: Was sollen wir denn tun? Da habe ich dann wieder die Ohren gespitzt, denn wir Zöllner kamen auch vor. Treibt nicht mehr ein, als in eurer Vorschrift festgesetzt ist.

Das war die ganze Antwort. Da ist bei mir der Rollladen runtergegangen. Ich bin nach Hause geschlichen wie ein geprügelter Hund. Ich hätte heulen können. Nichts Neues. Kein Weg zu Gott. Angeschimpft von einem, der auch nur „Tu“ und „Tu nicht“ zu bieten hatte. Nun hatte ich erst recht das Gefühl, Gott auf keinen Fall unter die Augen kommen zu dürfen.

Ich fühlte mich elend. Da war eine leere Stelle in meinem Herzen und ich wusste keinen Ausweg. Irgendwann hörte ich dann von Jesus – einem hier aus Galiläa. Auch er redete vom Reich Gottes. Aber glauben Sie bloß nicht, dass ich da hingelaufen wäre! Nein, so eine Abfuhr wollte ich mir nicht noch mal abholen. Ich bin schön sitzen geblieben in meinem Zollhäuschen. Noch ein Prophet, der von Umkehr redete? Nicht mit mir!

Und genau zu diesem Zollhäuschen kam Jesus. Irgendwann war er einfach da. Vielleicht hat er mir sogar eine Zeitlang bei der Arbeit zugesehen, ich weiß es nicht. Jedenfalls stand er dann vor mir. Und schaute mich an, schaute mich an wie … Dafür gibt es keine Worte! Er hat mir einfach ganz ruhig ins Gesicht gesehen, seine Hand auf meinen Arm gelegt und gesagt: Komm, folge mir! Sie können es glauben oder nicht, aber ich bin aufgestanden, habe die Bude zugemacht und bin gegangen. Es war klar. So einfach ist das. Erklären kann ich das nicht.

Ich hatte das Gefühl, dass dieser Jesus mich kennt, dass er in meinem Herzen den Wunsch gelesen, die leere Stelle gesehen hat. Komm!

Ich glaube, wenn er angefangen hätte, mein Leben auseinanderzunehmen, mein Herz in Frage zu stellen, mir Verhaltensmaßregeln zu geben – ich wäre aufgestanden und weggegangen. Auf Nimmerwiedersehen. Aber so ist Jesus nicht. Kein Wort hat er verloren über meinen Beruf, mein Leben, meine Religion. Als ob er gewusst hätte, dass diese Dinge nicht das Letzte sind, was man über mich sagen kann.

Ich habe viel Zeit gehabt, darüber nachzudenken, warum Jesus so ganz anders war als Johannes. Die beiden standen sich sehr nahe, waren angeblich verwandt. Aber Jesus selber hat einmal gesagt, dass das Gesetz und die Propheten bis zu Johannes reichen – und danach kommt die Predigt vom Reich Gottes. Johannes hat getan und gesagt, was seine Aufgabe war – er war einfach nicht Jesus.

Bei der ersten Predigt, die Jesus in Nazareth, seiner Heimatstadt, gehalten hat, hat er gesagt: „Jetzt ist es wie im Jobeljahr – jetzt sind alle wieder frei. Alle, die in Schuldknechtschaft sind, sollen wieder nach Hause gehen. Es ist egal, wie und warum jemand sich verkaufen musste – jetzt ist er frei. Jeder geht wieder da hin, wo er hingehört.“ Das habe ich erlebt. Freiheit. Aufstehen, gehen, kommen dürfen, ohne Bedingung.

Und das habe ich natürlich weitererzählt – ich musste ja sowieso die vielen Fragen beantworten, warum ich einfach weggegangen war. Ich habe es allen erzählt, die damals mit bei Johannes waren, und den anderen Kollegen. Ich habe sie alle eingeladen zu einem Fest, bei dem auch Jesus dabei war. Jesus bei mir im Haus – ich konnte es fast nicht glauben. Der erste Nicht-Zöllner seit Jahren! Und die anderen Jünger waren auch dabei – meine neuen „Kollegen“; wer hätte gedacht, dass das je möglich wäre! „Ihr müsst kommen“, habe ich zu meinen Leuten gesagt, „den müsst ihr einfach gesehen haben.“ Und sie sind alle gekommen – das war ein Abend!

Natürlich kamen auch die Pharisäer! Warum denn Jesus und seine Jünger mit Leuten wie mir und meinen Kollegen essen würden? Das ginge doch nicht, wir, die Sünder, die Unreinen … Jesus hat mit ihnen nicht darüber diskutiert, wie gut oder böse wir sind, er hat gesagt: „Kranke brauchen einen Arzt. Den Gesunden geht es ja gut, um die braucht der Arzt sich nicht zu kümmern. Aber die Kranken sind in Not und da gehe ich hin.“ So einfach war das. Vielleicht sind die Pharisäer ja wirklich gesund und alles ist in Ordnung. Keine Ahnung, muss ich auch nicht wissen. Ich weiß nur das: Wer den Weg zu Gott alleine nicht schafft, um den kümmert sich Jesus.

Dörte Kraft

2012 abgedruckt in: Das Geheimnis eines glücklichen Lebens, Hg. R. Deichgräber, SCM R. Brockhaus

Die Blaue Stunde

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