NEUE UND ALTE GEISTLICHE FORMEN

Geistliche Formen
Geistliche Begleitung will die Augen öffnen, um dem lebendigen Gott im Dornengestrüpp der eigenen Lebensgeschichte zu begegnen.

                                   (Karl Rahner)

Was hier so typisch trocken klingt, ist das Geheimnis alter Kostbarkeiten: sie sind auch heute in der Lage, neue Horizonte zu öffnen. Nicht alles, was alt ist, muss bewahrt werden – geistliches Leben ist kein Antiquitätenladen. Was nicht entzündet, erweitert, korrigiert, darf mit seiner Zeit ruhen. Aber manchmal entdecken wir Schätze, die uns im Heute beflügeln.

DIE IGNATIANISCHE SCHRIFTBETRACHTUNG

– ist, vereinfacht gesagt, so etwas wie Kopfkino mit biblischen Geschichten.

Sie geht zurück auf Ignatius von Loyola (1491-1556), den Gründer des Jesuitenordens. Eine Beschreibung dieser Art der Schriftmediation findet sich in seinem Exerzitienbuch (EB). Es handelt sich um eine Weise der „Betrachtung“, die vor allem für Geschichten mit konkretem Ort und Handlung geeignet ist.

Ziel der ignatianischen Schriftbetrachtung ist es, eine biblische Geschichte „mitzuerleben“ und über die soz. vor Ort gemachten Erfahrungen und die damit verbundenen Gefühle mit Gott ins Gespräch zu kommen. Es geht also weniger darum, sich theologisch oder historisch mit dem Text auseinander zu setzen, als vielmehr, diese Begegnung mit Jesus oder einer anderen Person „von innen her zu verkosten“. Es geht auch nicht unmittelbar darum, aus dem Text eine Handlung abzuleiten oder eine Erkenntnis zu gewinnen. Diese Betrachtungsweise will dem Menschen helfen, sich ganz ehrlich vor Gott zu öffnen: mit Fragen und Zweifeln, Ängsten und Unwillen, Sehnsucht und Freude. Alles darf sein und alles soll Teil des Gesprächs mit Gott sein.

Ihren Ort hat die ignatianische Schriftbetrachtung in der persönlichen Gebetszeit – während der Exerzitien oder auch im Alltag. Als Text empfehlen sich besonders die narrativen Texte der Evangelien – Geschichten, in denen mitvollzogen werden kann, wie Jesus Menschen begegnet. Aber auch Kerntexte des Alten Testaments können genommen werden. Während Exerzitien oder Alltagsexerzitien wird im Normalfall der Text durch den Begleiter empfohlen und die Erfahrungen aus der Betrachtung können im Begleitgespräch aufgenommen werden. Wenn die ignatianische Schriftbetrachtung ohne Exerzitienrahmen und Begleitgespräche geübt wird, kann es hilfreich sein, sich nach der Betrachtungszeit ein paar Notizen zu machen, um an die gemachte Erfahrung anknüpfen zu können. Innere Wege erkennen wir oft nur im Rückblick und dafür sind solche Notizen gut.

Leichter „lernt“ sich die ignatianische Schriftmeditation unter Anleitung. Im Folgenden beschreibe ich den Ablauf – in Anlehnung an die sehr gut nachvollziehbaren Beschreibungen von Dr. Stefan Kiechle SJ (in: Ignatius von Loyola, Herder Spektrum 2003, und Größer als unser Herz. Biblische Meditationen – Exerzitien im Alltag, Herder 2003).

  1. Ich finde mich an meinem Gebetsplatz ein und nehme eine Haltung ein, in der ich gut eine Stunde konzentriert dasein kann; ein paar Minuten Aufmerksamkeit für meinen Leib, die Wahrnehmung meines Atems helfen mir, im Hier und Jetzt anzukommen. Bedrängende Gedanken und Gefühle kann ich kommen lassen und für diese Zeit beiseite legen – später können sie wieder Raum haben.
    Nun bitte ich Gott, dass er mir helfe, meine Gedanken und Wünsche auf ihn hin auszurichten und hören zu können, was er mir sagen will.
  2. Ich lese die Geschichte – langsam, vielleicht auch laut, und bitte um das, was ich „zuinnerst wünsche und begehre“: eine Begegnung, Berührung, Erfahrung, Klärung, Ausrichtung…
  3. Ich lasse vor meinem inneren Auge die Szenerie entstehen: die Landschaft, das Dorf, Wüste oder See, was kann ich hier sehen, hören, riechen, wahrnehmen? Hitze, Staub, Blumenduft, eine Menschenmenge, Stimmen…
    Ich habe die Menschen dieser Geschichte vor Augen und identifiziere mich mit einer Person, zu der es mich hinzieht. Vielleicht bin ich aber auch nur Beobachter dieser Szene.
  4. Ich fühle mich hinein in diesen Platz und erlebe von hier aus mit, was passiert. Welche Gedanken oder Gefühle löst das Geschehen in mir aus? Was wird in mir angerührt? Fühle ich mich angezogen oder verwirrt oder herausgefordert? Ich bleibe mit meiner Aufmerksamkeit bei dem, was mich besonders anrührt.
  5. Ich spreche mit Gott über das, was ich erlebe; ich erzähle ihm, was in mir vorgeht. Alles ist Teil meiner Beziehung zu ihm.

Ganz zum Schluss nehme ich mir ein paar Minuten Zeit, um zurückzuschauen und wahrzunehmen, was ich erlebt habe, und um vielleicht ein paar Notizen zu machen.