AUSZEIT

– anhand eines Textes von Hanns Dieter Hüsch:

Paul auf den Bäumen

… der nach seinem Ausbruch aus der Anstalt
Durchs Land streift
Und die Nächte hier und dort verbringt
Habe den vorletzten Heiligen Abend
In einem leeren fahrenden Güterwagen verbracht
Und um die Nacht zu verteilen und den Schlaf zu
Vergessen
Habe er in völliger Dunkelheit
So beschwört er
Mit Kreide auf die 4 inneren Wände des Güterwagens
Alles was in ihm gewesen
Drauf geschrieben gekritzelt
Beschwört er
Immer ohne zu wissen
Was er nun schreibe und ob es anderntags
Leserlich sei
Bis alle Wände
Er habe sie mit der Hand abgetastet
Voll Kreide und Schrift gewesen
Dann wäre er eingeschlafen

Und sei am Morgen erwacht
Irgendwo in der Welt
Zwischen Brisbane und Stavanger
Und er habe die Tür geöffnet
Und Licht sei geworden
Und auf den Wänden
Voll Lebenszeichen und Hilferufen
Wutausbrüchen und Sanftmut und Jahreszahlen
Habe auf einmal gestanden
Überall hinter und übereinander
Und unter und durcheinander
Und überall
Sogar an der Decke des Wagens
Und auf dem Boden
Die er beide gar nicht beschrieben
Beschwört er
Habe auf einmal
Deutlich zu lesen
Gestanden:

Fürchtet euch nicht

Und wäre nicht wegzuwischen gewesen

(aus: Hanns Dieter Hüsch, Der Fall Hagenbuch, Düsseldorf 2008;
gefunden in: Der andere Advent, 19. 12. 2008)

 

AUSZEIT – MEINE

Sonntagmorgen, ich sitze allein im Wohnzimmer. Kerzen leisten mir Gesellschaft, mein Sohn schläft noch. Ich lese einen Text in meinem Der-andere-Advent-Kalender, der am Freitag, als er „dran“ gewesen wäre, keinen Platz hatte. So ist der Advent eben manchmal. Aber jetzt gebe ich ihm Raum, lese laut und denke schön! und habe plötzlich Tränen in den Augen. – Ich entdecke etwas, was Hanns Dieter Hüsch vielleicht gar nicht vor Augen hatte, als er diesen Text schrieb. Noch kenne ich den Zusammenhang des Buches, aus dem er entnommen ist, nicht, und beim Lesen gerät er unmittelbar hinein in meinen Zusammenhang. Dieser Text – dieses Gedicht scheint zu beschreiben, was ich in den drei Monaten der hinter mir liegenden Auszeit erlebt habe.

Drei besondere Monate liegen hinter mir, drei Monate, in denen ich mein normales Lebensumfeld, mein Zuhause, meinen Alltag, die Menschen um mich herum zurückgelassen habe. Drei Monate habe ich in einer kleinen Kommunität mitgelebt und habe in dieser Zeit eine therapeutische Gesprächsbegleitung erhalten. Beides war wichtig: der gleichmäßige kleine Alltag aus Gebets- und Mahlzeiten und (nicht sehr viel) Arbeit, der mir Zeit und Raum ließ für meinen inneren Weg, und die Therapiegespräche, die diesen Weg begleitet und geklärt haben.

Möglich wurde diese Zeit, weil meine Tochter für ein halbes Jahr ins Ausland ging und mein Sohn bei meinem Mann sein konnte. Nötig war sie geworden, nachdem meine Ehe zerbrochen war und ich ein Jahr nach der tatsächlichen Trennung mit meinen physischen und psychischen Kräften am Ende war. Zwar hatte es schon über Jahre hin Beratung und Seelsorge gegeben, was aber fehlte, war ein Schutzraum.

Ich bin nicht wie Paul im Text von Hanns Dieter Hüsch aus einer Anstalt ausgebrochen – ich konnte aus-steigen: angekündigt, vorbereitet, ich konnte ordnen, vorarbeiten, abmelden, verabschieden. Ich konnte gehen ohne einen Rattenschwanz von Pflichten und Schuldgefühlen. Ich konnte gut gehen und gut dort ankommen. Aber ich musste „raus hier“, weg. Das ist auch Entscheidung und Aktion. Manchmal wäre Bleiben einfacher, aber nicht gut.

Es ist ein Güterwagen, in dem Paul sitzt, ein fahrender Güterwagen. Ein abgeschlossener Raum, eine kleine Welt. Kein neuer Lebensraum, das hier ist nur auf Zeit. Aber unterwegs, kein Stillstand und auch keine Auseinandersetzung mit der Umgebung. Keine Geräuschkulisse eines Güterbahnhofs, niemand kann die Tür öffnen. Geschlossen, geschützt irgendwie, aber auch dunkel, begrenzt.

Paul ist unterwegs, am Heiligen Abend, fliehend vor Einsamkeit, Dunkelheit, Leere. Lieber selbst diesen begrenzten, dunklen Waggon wählen und weg hier als es auskosten, gejagt zu sein, oder betäubt vom Schlaf oder überflüssig oder der „helfenden“ Umwelt einer Anstalt ausgesetzt. Und irgendwie ist eine Auszeit auch so ein Waggon: sie ist begrenzt in Raum und Zeit. Vieles brauche ich hier nicht, ich muss mich nicht in der Tiefe einleben, denn ich werde hier bald wieder weggehen. Das ist gut, lässt mich frei bleiben. Ich setze mich nicht wirklich mit meiner Umgebung auseinander, ich bin unterwegs. Ich mag das Kloster, den Garten, meine Arbeit, ich mag die Schwestern dort – aber ich werde nicht Teil der Gemeinschaft, bleibe Gast, bleibe frei. Ich gehe wandern, gehe einkaufen, bummeln, Kaffee trinken, Ballett tanzen – und weiß, es ist für drei Monate. Manches genieße ich sehr, anderes ist, wie es ist. Kein neuer Lebensraum. Gut so, es muss nicht alles passen.

Und mit der äußeren Beschränkung ist eine innere Konzentration möglich: Paul schreibt, im Dunkeln, ohne sehen zu können, was er tut. Er schreibt – schreit mit Kreideworten – alles aus sich heraus. Schreibt, bis es gut ist und er einschläft.

„Jeder Eindruck braucht einen Ausdruck“ habe ich einmal gelernt – in einem Schreibseminar. Das hat meine Auszeit mir möglich gemacht: dass endlich das, was ich nicht hatte ausdrücken, nicht spüren, nicht leben können, was auch schon Jahre vorher nicht mehr leben konnte, seinen Raum und seinen Ausdruck findet. Angst, Verzweiflung, Klage, Fragen, Wut, Trauer – viele Gefühle und manche Gedanken kann ich schreiben, gestalten, tanzen, beten, weinen… Manches habe ich neu begriffen, habe Zusammenhänge verstanden, endlich gespürt, was in meinem Leben passiert ist und was es mit mir gemacht hat. Ich habe viel Schmerz gespürt, viel geweint und manchmal getobt. Im Alltag geht das oft nicht; aber was immer stumm bleiben muss, ist irgendwie auch tot. Mehr und mehr Bereiche meines Lebens blieben mir selbst verschlossen. Ein Tod greift um sich.

Was in solchen Zeiten entsteht, ist nicht für andere – es ist egal, ob die Kritzeleien auf der Innenwand leserlich sind. Die 4 inneren Wände nehmen auf, was Gestalt gewinnen muss. Es ist dieser Prozess, auf den es jetzt ankommt. Noch ist hier keine Antwort. Der Zug rattert durch die Nacht.

Es ist ein Geschenk, wenn in dieser Phase wirklich niemand versucht, eine Antwort zu geben! Ich bin sehr dankbar, dass ich in der Seelsorge und in der Therapie jeweils einer Frau gegenüber saß, die diese Wegstrecke einfach mit mir ausgehalten haben. Hörend, mitdenkend, betend, glaubend – aber in weisem und liebevollem Verzicht auf Rat, Trost und sonstige Antworten. Mein verwundetes Leben war nicht den Helfern und Systemen, der Anstalt, ausgesetzt. Auch das ist Teil des Schutzraumes, den das, was in mir war, brauchte, um immerhin bis an die dunklen Innenwände zu kommen. Noch nicht sichtbar, aber schon befreiend – im Gedicht kann Paul jetzt doch schlafen.

Dann kommt der nächste Tag, Paul erwacht, öffnet die Tür seines Waggons, lässt das Licht herein; er weiß nicht genau, wo er ist – zwischen Brisbane und Stavanger ist eine ziemlich genaue Ortsangabe – aber er macht eine unerwartete Entdeckung. Jetzt erst kann er erkennen, was er geschrieben hat und da findet sich Schönes und Schwieriges und scheinbar ganz Sachliches. Was ein Leben, das zu entgleisen droht, eben so alles enthält. Nüchterne Fakten, die Abfolge von Ereignissen, so war es – Jahreszahlen; aber auch gute Erfahrungen, Lebenszeichen – da entdecke ich wieder, was mich lebendig macht, worin meine Seele, mein Herz, meine ganze Person Leben findet. Für mich war das z. B. das Tanzen, aber auch schöne Literatur und das Ausarbeiten theologischer Themen. Ich lebe mit Schönheit, mit Kreativität und ich lebe mit Freundschaften. Da lebt etwas in mir wieder auf, auch das steht auf der Innenseite des Waggons und ich entziffere es im Morgenlicht. Das gehört zu mir, ich brauche es und ich habe es auch. Und da steht ganz anderes, Hilferufe, Wutausbrüche; auch sie sind jetzt zu erkennen – endlich.

Mit diesem vielfältigen Durcheinander vor Augen, sieht Paul plötzlich so etwas wie eine Antwort auf sein Gekritzel. Es ist nicht die Antwort auf eine einzelne Frage, keine himmlische Handlungsanweisung, keine Erklärung warum und weshalb. Und es steht da, wo auch das Durcheinander steht – Fürchtet euch nicht. Unglaublich, überall steht es, hinter und übereinander und unter und durcheinander und überall. Sogar dort, wo Paul doch gar nichts hingeschrieben hatte. Überall – über allem und hinter allem und in allem und durch alles hindurch steht in meinem Leben Gottes ‚Fürchte dich nicht!’
Es steht da, wo alles andere auch steht; mein Leben ist, wie es ist. Gott wischt es nicht weg wie Kreidebuchstaben auf der Waggonwand. Es bleibt stehen und im Morgenlicht sehe ich, dass Er immer schon mittendrin ist. Sein Zuspruch zieht sich durch alles hindurch und darum kann ich es aushalten, mein Leben, meine Kreideschreie, anzuschauen. Ich nehme wahr, was war und was ist und es kann wahr sein. Ich kann ihm ins Gesicht sehen – Gutes und Böses erkennen. Ich darf trauern und toben und danken. Und indem die Dinge ihren Platz erhalten, kann ich weiter gehen. Ich lasse nicht „zurück“, mein Leben gehört zu mir, auch im Rückblick. Aber ich kann jetzt trotz allem nach vorne gehen. Ich brauche nicht mehr zu verdrängen, nicht fromm umzuinterpretieren, ich brauche Zerstörerisches nicht zu akzeptieren und muss mein Herz nicht mehr verstecken. Ich darf und soll – und kann! – leben.

Das Fürchte dich nicht ist aus meinem Leben nicht wegzuwischen.

von Dörte Kraft, Dezember 2008